imc-Journalist in Cizre schwer verletzt – Türkei bombardiert YPG in Rojava – Steht Einmarsch kurz bevor?

Zehn Menschen wurden heute zum Teil schwer verletzt, als sie am 38. Tag der Ausgangssperre in Cizre drei Leichname von der Straße holen wollten. Der Gouverneur der Provinz Cizre gab heute den Familienangehörigen die Erlaubnis die Ermordeten, die seit Tagen herumlagen und buchstäblich verrotteten, zu bergen. Trotz Zusage des Gouverneurs eröffnete die Polizei das Feuer auf die Menschengruppe. In dieser befanden sich unter anderem der Parlamentsabgeordnete Faysal Sariyildiz, sowie der imc-Kameramann Refik Tekin*. Tekin wurde getroffen und kämpft im Krankenhaus um sein Leben. Mehr als 15 Menschen, darunter der HDP-Abgeordnete Sariyildiz, verstecken sich derzeit im Keller eines Hauses. Dieses wird laut seinen Angaben nun mit schweren Mörsergranaten beschossen. Die Gefahr eines Massakers droht.

Hier Videoaufnahmen direkt nach dem Beschuss der Menschen:

YPS-Jin Sirnak gegründet

ANF

YPS-Jin Sirnak bei ihrer Gründung. Quelle

Um sich vor eben solchen Angriffen des Staates zu schützen hat sich nun in Sirnak ebenfalls eine Frauen-Zivilverteidigungs-einheit (YPS-Jin Sirnak) gegründet. In der Gründungsversammlung betonten die Frauen: „Unsere Frauen, Kinder, Alten, Schwangeren, Behinderten, werden auf unmenschliche Art und Weise umgebracht. Wie auch unserem gesamten Volk, wird auch uns Frauen keinerlei demokratische

Sinan Targay

YPS-Barrikaden in Idil. Quelle: Sinan Targay, der sich gerade mit dem Lower Class Magazine in Nordkurdistan befindet.

Politik, nicht einmal mehr das Recht auf Leben zugestanden. Sie versuchen dem Mosaik der Völker in der Türkei ihre monistische (Anmerkung: alles als eins sehende) und reaktionäre Gesinnung aufzudrücken. Sie wissen, dass das kurdische Volk, die Frauen und die Jugend, diese Kolonialisierung nicht mehr akzeptieren und in ihrer Gesamtheit Burgen des Widerstandes aufgebaut haben (…)“.
Journalisten des Lower Class Magazine befinden sich gerade in Idil, 70km von Sirnak entfernt und berichten direkt vor Ort von ihren Erfahrungen mit den Barrikaden, den YPS(-Jin) und der Besatzung durch die türkische Armee. Es lohnt sich ihre Berichte zu lesen.

Türkei bombardiert YPG in Rojava

Unterdessen häufen sich Berichte darüber, dass die türkische Luftwaffe weiterhin die kurdischen Volksverteidigungseinheiten in Rojava bombardiert. Die in Nord-Syrien ansässige Nachrichtenagentur Ara News schreibt, dass erst gestern (19.01.16) das YPG-Hauptquartier in Tel Abyad durch Artillerie beschossen wurde. Dabei wurden zwei YPG-Kämpfer verletzt und drei Fahrzeuge zerstört. Die Stadt befindet sich zwischen den Kantonen Kobane und Cizire und liegt direkt an der türkischen Grenze. Im Juni 2015 gelang es der YPG mit Hilfe der Internationalen Koalition die Stadt vom IS zu erobern. Seitdem hat die türkische Armee allein dort 23 mal Angriffe gegen die KurdInnen durchgeführt. „Diese Angriffe machen die türkische Unterstützung für die IS-Terroristen deutlich“, so YPG-Sprecher Habun Osman gegenüber ARA News in Tel Abyad.
Gleichzeitig wird das türkische Militär immer unruhiger ob einer Eroberung der Grenzstadt Dscharablus, die die beiden westlichen Kantone Rojavas, Kobane und Afrin, trennt und derzeit noch vom IS gehalten wird. Ein Einmarsch der türkischen Armee, um die Eroberung der Stadt durch die QSD (Demokratische Kräfte Syriens, militärisches Bündnis zwischen YPG, arabischen und assyrischen Kämpfern – mehr dazu hier) zu verhindern, scheint bevorzustehen. So finden laut Sputnik derzeit massive Truppenbewegungen an die Grenze statt, dabei fällt auf, dass vor allem Minenräumfahrzeuge transportiert werden, die die vom IS im Grenzgebiet vergrabenen Minen räumen sollen. Parallel dazu hat der IS 850 schwer bewaffnete Kämpfer zur Verteidigung in die Stadt verlegt. Einige Quellen berichten sogar schon von einem kurzeitigen türkischen Einmarsch in Dscharablus am gestrigen Abend. Mehr Informationen dazu gibt es aber noch nicht.
Was passiert, wenn die Türkei als Nato-Mitgliedsland tatsächlich in Syrien einmarschiert, wie Russland reagiert und ob die QSD auch gegen die türkische Armee kämpfen würden, das steht in den Sternen. Allerdings könnte dies einen großen Schritt hin zur absoluten Eskalation des Krieges im Nahen Osten darstellen.

Zum Schluss sei noch ein lesenswerter Artikel des Historikers Michael Knapp empfohlen, der über die aktuelle Situation in Nordkurdistan schreibt. Er kommt zu dem Schluss:
„Es wäre an der Zeit, vielleicht schon der letzte Moment, eine völlige Eskalation durch Friedensverhandlungen zu verhindern. Während die kurdische Seite immer noch ihre Bereitschaft zu Verhandlungen und Gesprächen betont, müsste die AKP Regierung von ihrem Kriegskurs abgebracht werden. Wie es scheint stellt dies aber keine der Prioritäten der NATO Staaten dar.“

*Refik Tekin befand sich für Aufnahmen oft in Nordkurdistan und berichtete seit Monaten aus der belagerten Stadt Cizre. Hier findet ihr eine Bildergalerie von ihm, die bei einer der ersten 9-tägigen Ausgangssperren in Cizre im September 2015 entstanden ist und von imc veröffentlicht wurde. Zwei Beispielbilder:

Quelle

Refik Tekin. Quelle

Quelle

Refik Tekin. Quelle