Im Süden Kurdistans

Eines der letzten Newroz-Feste in Südkurdistan stand am Donnerstag, den 23. März an. Gemeinsam mit dem Rojnews-Jeep geht es nach Tuzhurmatu, das im Süden Südkurdistans liegt und von Bagdad nur knapp 200km entfernt ist. Die Stadt ist umkämpftes Gebiet zwischen schiitischen Turkmenen und Kurden. Die sogenannten Al-Haschd asch-Scha?b?, auch bekannt als Volksmobilmachungseinheiten, einem von der irakischen Regierung (und dem Iran) geförderten Zusammenschluss von mehreren schiitschen Milizen, lieferten sich in den letzten Jahren immer wieder Gefechte mit Einheiten der PUK-Peshmerga um den Einfluss in der Stadt. Derzeit soll die Kontrolle nach einem Abkommen zwischen Bagdad und der Kurdistan Regional Gouvernement zu 60% in den Händen der Kurden und zu 40% auf Seiten der Volksmobilmachungseinheiten liegen. Die Front zum IS befindet sich nur wenige Kilometer weiter westlich. Auf unserer Fahrt von Süleymaniye über Kirkuk nach Tuzhurmatu verläuft die geradlinige Straße fast parallel zu einer von der Terrormiliz kontrollierten Region, die derzeit aber komplett von kurdischen und irakischen Einheiten umzingelt ist.

Medien der kurdischen Freiheitsbewegung

Auf dem Weg nach Tuzhurmatu halten wir in Kirkuk bei der regionalen Vertretung der kurdischen Nachrichtenagentur ANF, der Ajansa Nûçeyan a Firatê. Hier arbeiten und leben vier bis fünf Journalisten, die aus der Gegend berichten. Gleichzeitig dient diese Pressevertretung als Rückversicherung, falls in anderen Städten die jeweilige Dependance von der dort herrschenden Partei geschlossen werden sollte und die Arbeit dann über Kirkuk weitergeführt werden muss. Mit dem Journalisten Munzur komme ich ins Gespräch. Er erklärt mir, dass der Aufbau der Medien der kurdischen Freiheitsbewegung an der dezentralen Struktur des KCK-Systems orientiert sei. KCK heißt in etwa „Union der Gemeinschaften Kurdistans“ und ist der Dachverband aller militärischen, politischen und zivilgesellschaftlichen Organisationen, die sich an der Weltanschauung des inhaftierten PKK-Gründers Abdullah Öcalan orientieren. Der Aufbau folgt dabei einem Rätesystem von unten nach oben. In den Medien spiegelt sich dieses System mit jeweils regionalen Schwerpunkten. Die Nachrichtenagentur und -seite Rojnews konzentriert sich auf Süd- und Ostkurdistan, in Nordkurdistan gibt es Dihaber, in Westkurdistan ANHA. ANF deckt alle vier Teile Kurdistans ab. Auch bei den Fernsehsendern ist es ähnlich. NewsChannel/MedNuce deckt den Norden, Newroz TV/Freedom TV den Süd-Osten und Ronahi TV den Westen Kurdistans ab.

Wohnsituation eines ANF-Journalisten.

Wohnsituation eines ANF-Journalisten in Kirkuk.

Sterk TV hingegen sendet für alle vier Teile und dementsprechend auch in den beiden kurdischen maßgeblichen Sprachen Kurmandschi und Sorani, sowie in Türkisch. Hinzu kommen Fernsehsender wie Cira TV, der sich vor allem an die Eziden richtet und der (derzeit von der Türkei verbotene) Sender TV10 für Aleviten.  Derzeit in Planung sind ein arabischsprachiger Sender und ein Sender nur für Frauen.  Auch wenn sich das nun nach einer durchstrukturierten Organisationsform anhört, sind alle einzelnen Medien für sich unabhängig. Die gemeinsamen Nenner sind die Philosophie und die theoretischen Konzepte der kurdischen Freiheitsbewegung, maßgeblich ausgearbeitet von Abdullah Öcalan, an der sich dann auch die jeweilige redaktionelle Linie orientiert. Auch wenn es bereits seit dem Ende des 19. Jahrhunderts kurdische (Tages-)Zeitungen gibt, spielen diese heute eher eine geringe Rolle. Dies liegt unter anderem daran, dass in Kurdistan traditionell eher eine orale Kultur vorherrscht und nicht so viel gelesen wird. Die Medienagenda wird seid Mitte der 90er Jahre durch Fernsehsender bestimmt. Hinzu kommen mittlerweile auch Internetseiten. Viele Kurden haben entsprechende Apps auf ihren Smartphones, um über den täglichen Nachrichtenstrom informiert zu sein.

Plötzlich an der Front

Nach dem Gespräch mit Munzur und einer kurzen Besichtigung der Arbeits- und Lebensräume der dortigen Journalisten, fahren wir weiter nach Tuzhurmatu. Dabei kommen wir immer wieder durch turkmenisches Gebiet. Diese Turkmenensuchen allerdings nicht die Unterstützung der Türkei, da sie Schiiten und keine Sunniten sind. Unterstützung von der kurdischen Autonomieregierung in Erbil lehnen sie ebenfalls ab. Ihre Verbundenheit gilt der irakischen, schiitisch geprägten Zentralregierung. „Bagdad stiehlt weniger als Erbil, deshalb haben sie sich für ersteres entschieden“ meint der Journalist Sores halb im Scherz, halb im Ernst während der Fahrt. Auf der Höhe der Kleinstadt Daqoq biegen wir plötzlich nach rechts ab. „Wohin geht es?“ frage ich. „An die Front“ antwortet mir Nasiyar, einer der fleißigsten Mitarbeiter von Rojnews.

Der Eingang zum HPG-Stützpunkt.

Der Eingang zum HPG-Stützpunkt.

Nach wenigen Minuten stehen wir vor einer befestigten Anlage über der Fahnen der HPG wehen. HPG bedeutet Hêzên Parastina Gel und heißt übersetzt Volksverteidigungskräfte. Dies ist der militärische Arm der PKK. Die PKK wird fälschlicherweise oft ausschließlich mit Krieg in Verbindung gebracht, allerdings besteht nur ein relativ kleiner Teil der Arbeiterpartei Kurdistans wirklich aus bewaffneten Kämpfern. Die meisten Kader arbeiten politisch in den verschiedensten Bereichen, auch wenn sie immer eine Kampfausbildung haben. Bei der HPG-Einheit, die wir nun an der Grenze zu Daesh besuchen ist das natürlich anders. Sie sind bewaffnet und überwachen den Frontabschnitt. Freundlich werden wir von den Kämpfern empfangen. Es sind mehrheitlich Frauen. Nach einigen Minuten erfahre ich auch den Zweck unseres Aufenthalts. So banal sich das anhört, aber wir sind zum Mittagessen eingeladen. In einem Unterstand gibt es selbstgemachte Lahmacun. Während des Essens kommen wir ins Gespräch. Ein Guerilla erklärt mir, dass der IS derzeit nicht mehr die Kraft habe in die Offensive zu gehen. Er schieße ab und zu einige Mörsergranaten in ihre Richtung, das sei aber schon alles. Ansonsten sei die Lage derzeit entspannt. Über den Innenhof fliegende weiße Tauben geben der Situation fast schon etwas friedliches. Insgesamt wird in der Anlage stark auf Reinlichkeit geachtet. Überall waschen, wischen und schrubben Guerilla-Kämpfer den Boden oder andere Oberflächen.

HPG-Fahne im Unterstand.

HPG-Fahne im Unterstand.

Generell wird in der kurdischen Freiheitsbewegung viel Wert auf Sauberkeit gelegt. Auch in Kandil waren alle Bärte immer perfekt geschnitten, die Haare gewaschen und die Klamotten und Schuhe(!) sauber. (Aus Sicherheitsgründen konnten keine besseren Aufnahmen gemacht werden)

Newroz-Feier in Tuzhurmatu
Nach einer knappen Stunde geht es weiter zur Newroz-Feier in Tuzhurmatu. Das Fest findet auf einem umzäunten Sportplatz am Stadtrand statt. Die Sicherheitsvorkehrungen sind stark. Überall stehen bewaffnete PUK-Peshmerga, die Eingänge werden kontrolliert, Menschen abgetastet. Die Front, aber auch die innerstädtischen Konflikte spiegeln sich in diesen Maßnahmen wieder.

Ich fühle mich mittlerweile schon wie ein Teil des Rojnews-Teams, helfe beim Tragen und Aufbau der Technik und kann während der Veranstaltung mit der offiziellen Kamera Fotos machen. Als ich drei bewaffnete Menschen fotografiere, winken sie mich zu sich. Doch sie sprechen kein Englisch und ich kein Sorani.DSC_0123 Also rufen sie kurzerhand den Sicherheitschef der Stadt an, der fließend Englisch spricht. Er heißt mich willkommen und beginnt über die Lage in der Stadt zu erzählen, welche Viertel sie in der Hand haben und welche unter Kontrolle der Volksmobilmachungs- einheiten stehen. Ich wundere mich, dass PUK-Peshmerga eine Veranstaltung von Tevgera Azadi, also der kurdischen Freiheitsbewegung absichern. Daraufhin sagt der Kommandant nur: „Um ehrlich zu sein, jeder hier liebt die PKK. Ich bin einer davon.“ Diese Aussage ist ein Beispiel für den generellen Respekt, den sehr viele Kurden für die PKK empfinden. Auch als es darum geht mit Öcalan-Fahnen für Fotos zu posieren, verweigern die anwesenden PUK-Peshmerga das nicht.

In der vordersten Reihe vor der Bühne sitzt eine Frau in Schwarz neben ihrem Mann. Auf ihrer Brust tragen sie beide das Abbild ihres Sohnes. Er ist erst vor Kurzem in den Reihen der YPG im Kampf gegen den IS gefallen. Die Trauer ist den beiden ins Gesicht geschrieben. Als die Mutter zusammen mit anderen Frauen das Newroz-Feuer anzünden soll, kann sie sich kaum auf den Beinen halten. Kurz danach verlässt das gezeichnete Ehepaar das Fest, davor läuft die Frau zum Abbild ihres Sohnes und küsst es schluchzend.

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Sie haben einen Sohn im Kampf gegen den IS verloren.

Es ist ein herzzerreißender Moment, der deutlich macht, wer auf dieser Welt den Kampf gegen die Barbarei von Daesh wirklich führt, wer die Lasten trägt und wer sich von der sicheren Couch zuhause in Europa über zu viele Geflüchtete aufregt. Das Programm der Feier kommt mir mittlerweile bekannt vor. Viele der auftretenden Bands und Künstler waren auch auf den Feiern in Kifri, Kandil und Machmur auf der Bühne. Doch die Menschen sind begeistert, nach und nach werden es immer mehr, bis am Ende mehr als 1000 Personen zur Musik tanzen. Mir fällt auf, dass hier im Vergleich zu anderen Newroz-Veranstaltungen nur sehr wenig Frauen dabei sind. Eine Aktivistin erklärt mir, dass die Arbeiten der kurdischen Freiheitsbewegung in dieser Stadt erst vor Kurzem begonnen hätten und die Strukturen noch extrem patriarchal geprägt sind.DSC_0110

In Tuzhurmatu berichten übrigens auch andere Medien von der Veranstaltung. Das Kurdish News Network hat einen Kameramann geschickt und auch Geli Kurdistan TV ist dabei. Beides sind Medien, die der PUK nahestehen.

Kurz vor Sonnenuntergang geht es zurück nach Kirkuk, dort verbringen wir eine Nacht im ANF-Gebäude, bevor wir am nächsten Morgen nach Süleymaniye zurückfahren.
In den nächsten Tagen wird es vermutlich keine großen Reisen mehr geben. Ich werde mich vor allem auf Interviews mit Medienvertretern vor Ort konzentrieren, zum Beispiel bei Kurdsat und Sterk TV.

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Der gefallene Sohn der anwesenden Eltern – Sehid Namirin.

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Das Newroz-Feuer wird entzündet.

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