Ein Staat in der Krise oder zurück zu den Werkseinstellungen?

Hasnain Kazim: Krisenstaat Türkei. München: Random House 2017.

„Du lügst schneller, als ein Pferd scheißen kann“ (S. 163) – Hasnain Kazims Buch ist ein beeindruckendes Beispiel für direkte Medienwirkungen. Erst in Form eines Shitstorms. Doch dabei soll es nicht bleiben.

Der Spiegel-Journalist beschreibt in zehn Kapiteln seine 32 Monate als Korrespondent in Istanbul. Es ist eine persönliche Bilanz des Wandels. Kazim erzählt von den Hoffnungen, die er und seine Frau hegten, als sie kurz nach den Gezi-Protesten im Sommer 2013 in der Türkei landeten. Und von der Desillusionierung, den diktatorischen Entwicklungen, dem „Tod einer Demokratie“ (S. 227), den er am eigenen Leib zu spüren bekommt. Im März 2016 muss Kazim das Land unter diplomatischem Schutz endgültig verlassen.

Aus kommunikationswissenschaftlicher Perspektive ist das Buch eine Manifestation starker Medienwirkungen. So stark, dass sie selbst einen kritischen Journalisten zweimal überlegen lassen, ob er sich an ein Thema wagt – oder lieber nicht. „‘Sie und ihre Kollegen sind verantwortlich für die ganzen Unruhen in meinem Land! (…) Verlassen Sie mein Taxi!‘“ (S. 153). Solche Auswirkungen hatte die kritische und differenzierte Berichterstattung Kazims, der sich nicht scheute, auch mit bewaffneten kurdischen Jugendlichen in Städten zu sprechen, die im Herbst 2015 eine „demokratische Autonomie“ ausgerufen hatten. Als der Journalist im Mai 2015 im Nachgang des Grubenmassakers von Soma einen Artikel mit dem Zitat „Scher dich zum Teufel, Erdogan!“ veröffentlicht, werden der Druck, die Beschimpfungen immens. Tausende türkische Facebook-Nutzer drohten mit dem Tod. Kazim und seine Familie müssen das erste Mal Hals über Kopf aus dem Land. Auch in Deutschland kann er im Anschluss nur in Begleitung von Bodyguards von einer Veranstaltung der AKP-Lobbyorganisation UETD (Union Europäisch-Türkischer Demokraten) berichten und muss den Veranstaltungsort aus Sicherheitsgründen frühzeitig verlassen (S. 168). Nach zwei Wochen kehrt er zurück nach Istanbul – mit einer Schere im Kopf, die weiter denn je geöffnet ist (S. 187).

„Krisenstaat Türkei“ ist ein Beispiel dafür, wie ein Spiegel-Journalist die Türkei aus westlicher Perspektive für die Leserin konstruiert. Dabei bedient er in weiten Teilen das europäische Narrativ: Am Anfang, in den frühen 2000er Jahren, steht ein aufstrebendes Land, das sich nach liberalen Werten entwickelt, und am Ende eine autokratische Diktatur, die mit einer EU-Mitgliedschaft nicht zu vereinbaren ist (Diese Erzählung wiederholt er in Kurzform auch im Spiegel Online Videoblog). Eine Lektüre der Dissertation „Wider den Staatsmythos“ des Politikwissenschaftlers Axel Gehring , die demnächst in einem großen Verlag erscheint, könnte hier in Zukunft für mehr Klarheit sorgen. Gehrings Arbeit verdeutlicht die europäische (Mit-)Verantwortung beim Aufbau der AKP-Diktatur, vor allem unter ökonomischen Gesichtspunkten ( vgl. dazu bereits früher publiziert: EU-Erweiterung als transatlantische Angelegenheit, S. 125). Insgesamt ist zu kritisieren, dass die Unterstützung des Westens für Erdogan und seine AKP in Kazims Buch nur eine sehr untergeordnete Rolle spielt. Das „Märchen“ von einem Erdogan, der einst liberal war und damit wirtschaftlichen Erfolg hatte, wird auch im vorliegenden Buch erzählt. Die Erfolgsgeschichte beginnt auf Seite 72, mit allen Zutaten, die der Neoliberalismus zu bieten hat: Privatisierungen, Auslandsinvestitionen, Zurückdrängung des Staates. Die Nebenfolgen bleiben allerdings im Dunklen: Das de facto-Verbot gewerkschaftlicher Arbeit in Betrieben, der blühende Niedriglohn- und Leiharbeitsektor, eine der weltweit höchsten Sterblichkeitsraten bei Arbeitsunfällen (dazu auch lesenswert Tugal 2017). Für europäische Unternehmen ein Investitionsparadies. Doch was dies für die untersten Teile der türkischen und kurdischen Arbeiterschaft schon zu Beginn der AKP-Regierung bedeutet hat, wird gar nicht oder nur am Rande thematisiert.

Dennoch: Ergänzt wird die westliche Konstruktion Kazims durch einzelne differenzierte Einblicke aus „pakistanischer Perspektive“. Dort genießt die Türkei hohes Ansehen, wie es Kazim während seiner Korrespondentenzeit in Islamabad mit eigenen Augen beobachten konnte (S. 12). Interessant ist hier die Entwicklung der persönlichen Erwartungen des Journalisten, als er mit seiner Familie nach Istanbul zieht. Eine Ankunft voller Freude, endlich dem Konservatismus der pakistanischen Gesellschaft entkommen zu sein, hinein in eine Weltstadt mit pulsierendem Leben, im frisch gentrifizierten Stadtviertel Cihangir, schräg unterhalb des Taksim-Platzes. Dass ihn das einschränkende Freiheitsverständnis des politisch instrumentalisierten Islams so schnell in den Kneipen und Diskos von Beyoglu einholen würde, damit hat Kazim (und auch der Autor dieser Zeilen) vermutlich nicht gerechnet. Insgesamt schwankt das Buch zwischen einer Mischung aus sachlichen, historisch einordnenden Darstellungen und persönlichen Erfahrungen. Besonders beeindruckend zum Beispiel die Begegnungen Kazims mit IS-Unterstützern in der Türkei (S. 108f), die ohne Probleme agieren konnten: „Der IS warb in diesem Land mehr oder weniger offen Mitglieder an, und die Regierung schaute weg“ (S. 110).

Eine zentrale Frage und Kritik erschließt sich aus dem Buchtitel „Krisenstaat Türkei“. Vermutlich auch ein Wunsch des Verlages, verspricht dieser Titel doch höhere Verkaufszahlen. Doch handelt es sich wirklich um einen Staat in der Krise? Oder nicht doch um eine (brutale) Kontinuität staatlichen Handelns, wie sie seit Gründung der Türkischen Republik 1923 bekannt ist – vor allem für Kurdinnen und Kurden, die damals genauso wie heute unter Repression und Verfolgung zu leiden hatten und haben. So könnte man in Anlehnung an die Bonner Politikwissenschaftlerin Rosa Burc auch von einem „Zurück zu den türkischen Werkseinstellungen“ sprechen. Zumindest für die Kurden-Politik des Staates trifft dies zu. So ist auch der Aussage Kazims nur bedingt zustimmen, dass Erdogan „einen Gegenentwurf zu Atatürk“ (S. 46) anstrebe. Denn in den Methoden zur Durchsetzung ihrer Staatsprojekte unterscheiden sich beide nicht: Ausgangssperren, Vertreibungen und Niederschlagung jeglicher prinzipieller Kritik.

„Wir wollen keine Journalisten im Gefängnis“ – Demonstration für Pressefreiheit in Istanbul

Dies führt weiter zur Darstellung des Konfliktfeldes zwischen türkischem Staat und kurdischer Bevölkerung, die besonders im sechsten Kapitel „Alte Konflikte: Türken und Kurden“ eine Rolle spielt (S. 117-152), aber nicht nur dort. Immer wieder stören hier kleine Lücken und Fehler. Etwa wenn auf Seite 194 von „türkischen Journalisten“ gesprochen wird, die im Gefängnis sitzen, weil sie ihre Arbeit getan haben. Dass die Mehrheit von ihnen Kurden sind, die mit dem Vorwurf „Terrorunterstützung“ festgenommen wurden, findet keine Erwähnung. Auf Seite 208 bezeichnet Kazim die in Nordsyrien kämpfenden Volksverteidigungseinheiten YPG als den bewaffneten Arm der Partei der demokratischen Einheit PYD. In Verkennung der Tatsache, dass es sich bei den YPG schon seit längerem um eine parteiübergreifende Armee handelt. Auch die Darstellung der Bündniskoalitionen in Syrien in Bezug auf die Kurden ist verkürzt (S. 209), sie stellt aber keinen Schwerpunkt des Buches dar. Zu behaupten, die YPG leiste der militanten Jugendorganisation YDG-H (Revolutionär patriotische Jugendbewegung) im Osten der Türkei in irgendeiner Form Hilfe, entbehrt hingegen jeglicher Grundlage (S. 141).

Am gravierendsten ist jedoch die Aussage, die PKK habe auch während des Friedensprozesses Anschläge auf Polizei und Militär begangen (S. 125, 142). Dies war de facto nicht der Fall. Die kurdischen Kämpfer übten während der Waffenstillstandsphase vom Frühling 2013 bis Sommer 2015 große Zurückhaltung. Und das, obwohl die türkische Armee beständig Stützpunkte auf den von der PKK verlassenen Gebieten aufbaute. Der 19-jährige Medeni Yildirim, der am 28. Juni 2013 bei zivilen Protesten in Kayac?k von türkischen Soldaten erschossen wurde, ist nur ein Beispiel dafür, dass es der türkische Staat an eigener Zurückhaltung mangeln ließ. Selbst die Erschießung zweier Polizisten im Juli 2015 (S. 139), noch vor Beginn des Bombardements der nordirakischen Kandil-Berge, in denen die PKK ihr Hauptquartier hat, geht mit sehr hoher Wahrscheinlichkeit nicht auf das Konto der Kurden.  In der Türkei wird mittlerweile darüber debattiert, dass die Gülen-Bewegung an dem Mord beteiligt gewesen sein könnte, um den Friedensprozess gezielt zu sabotieren.

Zu kritisieren ist hier die Äquidistanz. Gelten in Zeiten der offensichtlichen Ungerechtigkeit auch die Prinzipien des westlich geprägten journalistischen Objektivitätsverständnisses? Kazim betont immer wieder, beide Seiten des Konfliktes darstellen zu wollen (auch wenn er vermutlich Sympathien für das politische Projekt der HDP hegte) und den „Terror“ (S. 118) der PKK zu verdammen. Dass die Arbeiterpartei Kurdistans ohne die Unterstützung der kurdischen Bevölkerung vor Ort nicht in der Lage wäre, einen mehr als 30 Jahre währenden Krieg aufrechtzuerhalten, findet bei ihm keine Berücksichtigung. Der Roman „Zeit der Brombeeren“ liefert (trotz vieler Rechtschreibfehler in der deutschen Übersetzung) einen bemerkenswerten literarischen Eindruck dieser innerkurdischen Solidarität. Deutlich wurden für Kazim beim Schreiben über die kurdische Thematik auch hier die direkten Medienwirkungen. Immer gab es heftige Reaktionen türkischer Nationalisten: „Hunderte E-Mails mit Beschimpfungen“ (S. 117) folgten, ihm wurde „Sympathie mit Terroristen“ (S. 118) vorgeworfen.

Eine Rezension soll ein neues Buch kritisch vorstellen. Es erscheint zu einer Zeit, in der Kritik an der AKP-Diktatur en vogue ist. Trotzdem ist das Buch mit seinen vielfältigen, teils sehr persönlichen Einblicken in das Leben eines Korrespondenten lesenswert. Insgesamt wird hier eine differenzierte Betrachtung der Türkei geliefert. Es sei hiermit zum Kauf empfohlen. Den Westen an der eigenen Nase zu packen und nach der Mitverantwortung und Mitschuld beim Aufbau des AKP-Regimes zu fragen: Das leistet Kazim allerdings nicht.

Literatur

Murat Türk: Zeit der Brombeeren. Neuss: Mezopotamien Verlag 2016.

Rosa Burc: Nach dem Putsch ist vor dem Putsch. Kurdistan-Report 188

Quelle Titelbild: Demonstration für Pressefreiheit in Istanbul, Foto: Kerem Schamberger

Anmerkung:
Diese Rezension erschien ursprünglich auf http://medienblog.hypotheses.org/. Dies ist der Blog des Lehrbereich Meyens am IfKW der LMU München. Den Originalbeitrag findet ihr deshalb hier.

Empfohlene Zitierweise (von Originalblog):
Kerem Schamberger: Ein Staat in der Krise oder zurück zu den Werkseinstellungen? Rezension zu Hasnain Kazim: Krisenstaat Türkei. München: Random House 2017 In: Michael Meyen (Hrsg.): Medienrealität 2017. http://medienblog.hypotheses.org/644 (Datum des Zugriffs)